Es war ein einziger Augenblick – ein Blick, ein Zucken der Augenbraue, ein undeutliches Lächeln – und Daniela wusste: Sie kannte diesen Mann. Der Schatten, der sie seit Tagen in Angst und Dunkelheit gefangen hielt, war kein Fremder. Im flackernden Licht der Lagerhalle fiel ihr das Gesicht wieder ein. Er war Familie – zumindest für Dragan. Und plötzlich bekam die Entführung, die sie für eine willkürliche Machtdemonstration gehalten hatte, eine persönliche Dimension. Es war Dragans Cousin, und er hatte es nie auf sie abgesehen – sondern auf seinen verdammten Anteil.
Danielas Gedanken rasten. Was hatte Dragan getan? Welche Abmachung hatte er getroffen – und wie konnte sie mitten in diesem perfiden Rachefeldzug landen, nur weil sie einst dem Falschen vertraut hatte?
Die Tage in der Gefangenschaft hatten Daniela zermürbt. Zwischen Drohungen, langen Schweigeminuten und verwirrenden Halbwahrheiten hatte sie fast vergessen, wer sie einmal war: stark, klug, wachsam. Doch die Erkenntnis, wer hinter der Maske steckte, löste etwas in ihr aus. Kein bloßes Überleben mehr. Sondern Widerstand. Sie kannte diesen Mann. Und er hatte eine Schwäche: sein Ego.
Während Daniela versuchte, ihm Informationen zu entlocken, wurde ihr klar, dass es weniger um sie ging als um eine alte Rechnung, die nie beglichen wurde. Der Cousin – Miro, wie sie sich nun erinnerte – hatte Dragan in früheren Jahren bei dubiosen Geschäften unterstützt. Transporte, Geldwäschen, kleine Gefallen, große Gefahren. Und irgendwann hatte Dragan ihn einfach abserviert. Ohne Erklärung. Ohne den versprochenen Gewinn. Seitdem brodelte in Miro ein Feuer aus Enttäuschung und Hass. Nun wollte er sich nehmen, was ihm „zustand“.
„Du bist nur der Köder“, sagte er eines Abends, als er ihr ein Glas Wasser hinstellte. „Dragan wird kommen. Für dich. Und dann ist alles vorbei.“ Doch seine Stimme zitterte. Nicht vor Wut, sondern vor Unsicherheit. Denn Dragan war eben nicht gekommen. Und er würde auch nicht mehr.
Was Miro nicht wusste – Dragan war längst verschwunden. Über alle Berge. Keine Spuren. Kein Handy. Keine Nachricht. Selbst Henning, der Daniela verzweifelt suchte, hatte keinerlei Anhaltspunkte mehr, wo sich Dragan aufhielt. Als hätte er sich in Luft aufgelöst – wie ein Geist, der nur Unheil hinterlässt.
Henning, inzwischen von der Polizei entmachtet und von eigenen Schuldgefühlen getrieben, begibt sich auf eine gefährliche Suche nach Daniela. Doch jeder Hinweis führt ins Nichts. Jeder Schritt offenbart nur weitere Lügen, weitere Spuren aus Dragans Vergangenheit. Die Polizei glaubt nicht mehr an ein Entführungsdrama – sie glauben an ein abgekartetes Spiel. Nur Henning glaubt weiter an Danielas Unschuld. Und ihre Gefahr.
Währenddessen eskaliert die Situation in der Lagerhalle. Miro verliert die Geduld. Die Funkstille von Dragan lässt ihn zweifeln, wütet, droht. Er schlägt gegen Wände, wirft Flaschen, flucht auf Kroatisch. Daniela nutzt seine Wut. Sie redet auf ihn ein. Erzählt ihm, was sie weiß – oder zu wissen vorgibt. „Dragan ist nicht mehr in Deutschland“, sagt sie mit fester Stimme. „Er hat dich verraten. Wie mich. Wir sind beide nur Schachfiguren.“ Ihre Worte treffen ihn. Und sie weiß es. Sie sieht es in seinen Augen – Schmerz, Verwirrung, Scham. Für den Bruchteil einer Sekunde sieht sie den kleinen Jungen in ihm, der nur dazugehören wollte.
Doch Miro ist kein Kind mehr. Und seine Wut kennt keine Gnade. Wenn Dragan nicht kommt, wird Daniela dafür zahlen.
Was Daniela jedoch nicht weiß: Ein alter Bekannter hat Miro beobachtet. Ben, der durch einen Zufall einen Umschlag mit Fotos und alten Kontakten aus Dragans Umfeld fand, hat Verdacht geschöpft. Und dieser Verdacht führt ihn direkt zur Lagerhalle am Stadtrand – ein verlassener Ort, den er noch aus seiner Vergangenheit kennt.
Der Moment der Wahrheit rückt näher. Daniela, inzwischen körperlich geschwächt, aber mental hellwach, erkennt, dass Miro in einer Sackgasse steckt. Dragan kommt nicht. Und sie ist seine letzte Karte. Vielleicht kann sie ihn überzeugen, sie freizulassen. Vielleicht nicht.
Als die Tür aufbricht – und Ben auftaucht – eskaliert alles in wenigen Sekunden. Ein Schuss. Ein Schrei. Ein Zusammenbruch. Und dann: Stille.
Miro liegt gefesselt am Boden. Daniela atmet schwer. Und Ben? Er sieht sie an – erschüttert und zugleich erleichtert. „Ich hab dich“, sagt er. Doch beide wissen: Es ist noch lange nicht vorbei.
Denn Dragan ist nicht tot. Er ist frei. Und Daniela weiß jetzt mehr denn je, dass er sie nie geliebt hat. Nur benutzt. Nur verraten.